Sozialwirtschaft aktuell - Hilfe per App

München, Januar 2020 - "Ein kleines Team sorgt mit Weitblick und ungewöhnlichen Ideen für frischen Wind. Über ein digitales Matching-Verfahren kommen Ehrenamtliche und Hilfesuchende zusammen."

Hilfe per App

Dem Bundesministerium für Gesundheit zufolge gibt es in Deutschland aktuell 3,5 Millionen pflegebedürftige Menschen. Lediglich 24 Prozent davon werden stationär versorgt, 2,7 Millionen Pflegebedürftige zuhause von pflegenden Angehörigen betreut. Drei Viertel der zuhause lebenden Pflegebedürftigen werden nur durch Angehörige betreut. Lediglich 23 Prozent werden bei ihrer Tätigkeit durch einen ambulanten Pflegedienst unterstützt.

Hinzu kommen aktuell noch einmal ca. sechs Millionen hilfsbedürftige Menschen, die noch keinen Pflegegrad haben, aber auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. In den kommenden Jahren wird die Zahl der hilfs- und pflegebedürftigen Menschen drastisch weiter anwachsen. Aufgrund des demografischen Wandels ist damit zu rechnen, dass 2030 jeder siebte Bürger auf Hilfe im Alltag angewiesen ist und das bei 500.000 fehlenden Pflegefachkräften. Auf die pflegenden Angehörigen, die schon heute restlos überlastet sind, kommt also eine noch größere Belastung zu.

Angehörige als Leidtragende des Pflegenotstands

Laut Pflegereport 2018 der Barmer Krankenkasse geben 85 Prozent der pflegenden Familienmitglieder an, dass die Pflege ihr gesamtes tägliches Leben bestimme. Die Hälfte von ihnen ist mehr als zwölf Stunden pro Tag gefordert. »Nicht von ungefähr wünschen sich 60 Prozent der pflegenden Angehörigen dringend mehr Unterstützung bei der Pflege. Viele sind an der Grenze der Belastbarkeit angekommen«, sagt der Autor des Pflegereports, Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. So ist es nicht verwunderlich, dass 185.000 pflegende Angehörige nach eigener Aussage ernsthaft darüber nachdenken, ihre pflegerischen Tätigkeiten einzustellen, da sie der Belastung nicht standhalten.

Ehrenamtliche Helfer zur Unterstützung pflegender Angehöriger

Der gemeinnützige Verein deinNachbar e. V. hat es sich zum Ziel gesetzt, ein deutschlandweites soziales Unterstützungsnetzwerk mit geschulten ehrenamtlichen Helfern aufzubauen, um hilfsbedürftige Menschen qualifiziert und zuverlässig innerhalb von 24 Stunden zu versorgen. Alte und pflegebedürftige Menschen sollen in ihrem Zuhause bleiben können und pflegende Angehörige entlastet werden. Dafür hat der Verein einen interdisziplinären Ansatz aus Pflege, modernem Ehrenamt, reibungslos funktionierender Logistik und einem hohen Grad der Digitalisierung entwickelt und in München erfolgreich implementiert.

Digitales Know-how

Der Logistiker und ehemalige Rettungsassistent Thomas Oeben beschreibt seine Motivation zur Gründung dieses sozialen Netzwerkes: »Wir können doch nicht ernsthaft akzeptieren, dass wir zwar in der Lage sind, ein Buch binnen 24 Stunden verbindlich an jede Haustür innerhalb Deutschlands zu liefern, für soziale Unterstützungsleistungen aber keine einheitlichen Strukturen und Servicelevels haben.

Ebenso wenig können wir einfach tatenlos hinnehmen, dass sämtliche vorhandenen Beratungs- und Koordinationsstellen dauerhaft überlastet und aufgrund mangelnder Digitalisierung gar nicht in der Lage sind, den Hilfsbedürftigen Organisationen mit freien Kapazitäten zu vermitteln, sondern lediglich Flyer verteilen. Letztendlich können und werden wir das große gesellschaftspolitische Problem, das der stetig wachsende Pflegebedarf uns allen beschert, nur lösen, indem wir wieder enger zusammenwachsen und sich jeder ein bisschen in die Gesellschaft einbringt.

Dazu wiederum werden wir die Menschen aber nur erfolgreich motivieren, wenn sie die Art, Zeit und Dauer ihrer Tätigkeit und den Einsatzort selbst – und zwar so unkompliziert wie möglich - wählen können. Die Kunst besteht also darin, die Last und Verantwortung auf viele verschiedene Schultern zu verteilen und im Sinne der Nachhaltigkeit dafür zu sorgen, dass Helfen zu einer Bereicherung und nicht zu einer Belastung wird.«

Geschulte Laienhelfer können entlasten

deinNachbar e.V. baut ein Netzwerk mit vielen ehrenamtlichen Helfern aus der Nachbarschaft auf, die von Pflegefachkräften geschult und angeleitet werden. Vereinsgründer Oeben erläutert: »Wir können die stetig wachsende Zahl der Pflegebedürftigen in Zeiten des Fachkräftemangels nur dann menschenwürdig versorgen, wenn die Pflegefachkräfte sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren und die Ressourcen der pflegenden Angehörigen nicht länger überstrapaziert werden. Betreuungs- und Unterstützungsleistungen müssen wir daher gut geschulten Laienhelfern übertragen, die unter der Anleitung von Fachkräften die Versorgung in der Nachbarschaft sicherstellen. Um dies effizient und qualitativ hochwertig zu steuern, benötigen wir logistische Ansätze, moderne IT-Systeme und digitalisierte Prozesse.«

Digitales Helferportal

Erklärtes Ziel dieser besonderen Art der professionalisierten Nachbarschaftshilfe ist es, das Leben aller Beteiligten langfristig zu bereichern und pflegende Angehörige dauerhaft zu entlasten. Der Prozess beginnt mit dem Aufbau eines großen Netzwerks von potenziellen Helfern. In persönlichen Aufnahmegesprächen werden u. a. Stammdaten, Leistungsbereitschaft für unterschiedliche Dienstleistungen, Qualifikation, mögliche Einsatz-Zeitfenster sowie das gewünschte geografische Einsatzgebiet in dem eigens dafür programmierten ITSystem »Helferportal« erfasst. So kann das Helferpotenzial gezielt und systemgestützt ermittelt und die Einsatzbereitschaft der passenden Helfer per App oder SMS abgefragt werden.

Bürger, die ehrenamtlich helfen wollen, werden von Pflegefachkräften zu Alltagshelfern geschult und entsprechend ihren eigenen Neigungen zum Einkaufen, Spazierengehen, Plaudern, Vorlesen, zur hauswirtschaftlichen Unterstützung, für Behördengänge oder Arztbesuche eingesetzt. Mithilfe des Helferportals samt dazu gehöriger App werden die Anfragen der Hilfesuchenden mit den Einsatzwünschen der ehrenamtlichen Helfer exakt abgeglichen und die Verfügbarkeit der passenden Helfer schnell und unkompliziert digital abgefragt.

Passgenaue Paarung für ein gutes Miteinander

Thomas Oeben erklärt das besondere Verfahren: Entscheidend sei, dass Hilfsbedürftige binnen kürzester Zeit genau die Unterstützung erfahren, die sie benötigen. Nachdem die Fachkraft einen Hilfebedarf im System hinterlegt, filtert dieses automatisch nach geeigneten Helfern, welche die angefragte Leistung in den benötigten Zeitfenstern und der gewünschten Region gerne erbringen würden und fragt deren Leistungsbereitschaft per App oder SMS an. Helfer können die Anfragen digital zu- oder absagen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. In der App können die Helfer auf einem Stadtplan auch aktiv selbst nach Einsatzmöglichkeiten, auch außerhalb ihres Helferprofils, suchen und sich darauf bewerben. 

Der Koordinator hat jederzeit den Überblick über den Status jeder Hilfeanfrage und sucht aus den digitalen Zusagen der Helfer einen geeigneten aus, der die kompletten Auftragsdaten über die App erhält. Die anderen Bewerber bekommen eine automatisierte Absage. Bei Ersteinsätzen werden die Helfer den Pflegebedürftigen durch die Fachkraft vorgestellt und für die zu erbringenden Tätigkeiten und krankheitsbedingte Besonderheiten angeleitet. Die Verbindlichkeit der Versorgungsstruktur wird durch die Engmaschigkeit des Netzwerkes und die schnelle, digitale Helfersuche und Einsatzkoordination erreicht. Für Qualität bürgen die angestellten Pflegefachkräfte, welche die Pflegebedürftigen persönlich aufnehmen und den Bedarf evaluieren, pflegende Angehörige beraten und die ehrenamtlichen Helfer schulen, anleiten und betreuen.

Pilotmodell soll Schule machen

Im Juli 2015 hat deinNachbar e. V. in München die ersten Räumlichkeiten bezogen, die als Koordinationsstelle, Schulungszentrum und soziale Begegnungsstätte dienen. Das Pilotstadium des sozialen Unterstützungsnetzwerks ist mit 300 geschulten und einigen ungeschulten Helfern, die zusammen aktuell mehr als 1.800 Betreuungsstunden pro Monat erbringen, abgeschlossen. Die Prozesse und die IT-Infrastruktur sind soweit ausgebaut, dass das Projekt jederzeit skaliert werden kann. Abhängig von der Anschubfinanzierung will deinNachbar e. V. weitere Niederlassungen nach demselben Modell aufbauen und mit anderen Organisationen kooperieren.

Erklärtes Ziel ist der gemeinsame Aufbau eines deutschlandweiten, flächendeckenden und qualitätsgesicherten Unterstützungsnetzwerks, das hilfs- und pflegebedürftigen Menschen, sowie deren Angehörigen innerhalb von 24 Stunden durch geschulte Laienhelfer die Unterstützung bietet, die sie gerade benötigen.

Effizienzsteigerung dank Technologie

Die IT-Plattform »Helferportal« bietet sozialen Organisationen die Möglichkeit, ihre internen Prozesse zu digitalisieren, um die Helfersuche, Koordination und Abrechnung effizient abwickeln zu können. Dazu hat Thomas Oeben ein vollintegriertes System zur Unterstützung aller Prozesse, inklusive der Abrechnung und mit Schnittstelle zur Buchhaltung und dem Zahlungssystem, entwickelt. Es garantiert die effiziente Helfer-Koordination durch digitale Prozesse, schnelle Verfügbarkeitsabfragen im Helferkreis und den Überblick über den Status aller Einsätze und lässt sich unkompliziert an individuelle Besonderheiten anpassen.

Helfergewinnung dank passgenauer Einsatzanfragen

Nachdem das Konzept intensiv auf die Belange der Helfer eingeht und diesen digital nur passgenaue Einsatzmöglichkeiten offeriert, erfreut sich der Verein eines regen Zulaufs von ehrenamtlichen Helfern. »Warum sollte man Menschen mit Einsatzanfragen belästigen, die sie nicht ausführen können oder wollen? Und auch Versuche, Helfer zu Einsätzen zu überreden, die sie nicht gerne ausüben, führen nicht zu nachhaltigem Engagement«, erklärt Oeben.

Mithilfe des Helferportals können Helfer jederzeit online auch ihr Profil ändern und auch außerhalb ihres Wunschgebietes auf einem Stadtplan nach Einsatzmöglichkeiten suchen. Die Helfer haben also maximale Wahl- und Gestaltungsfreiheit. Erst wenn Sie eine Zusage geben, wird von Ihnen absolute Verbindlichkeit eingefordert. So wird Helfen zur Freude und nicht zur Belastung.

Auszeichnungen

In Politik und Gesellschaft erfährt das zukunftweisende Modell von deinNachbar e.V. große Anerkennung und ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. So wurde der Verein von Bundesminister a. D. Wolfgang Clement im Januar 2019 mit dem Deutschen Exzellenz-Preis prämiert, erhielt den vdek-Zukunftspreis 2018 vom Verband der Ersatzkassen, den German Stevie Award 2017 als »Startup des Jahres«, wurde vom damaligen Bundespräsident Joachim Gauck im Rahmen der Initiative »Deutschland – Land der Ideen« im September 2016 als zukunftsweisendes Projekt ausgezeichnet und zählt zu den Gewinnern der Aktion »Gutes Beispiel 2019« des Bayerischen Rundfunks. Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt und Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern e. V.

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